An der Wiege der europäischen Raumfahrt
Wenig bekannte Rolle deutscher Spezialisten bei der Raketenentwicklung in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg


Eine Ariane 5 beim Start.
An der Entwicklung französischer Trägerraketen waren deutsche Ingenieure massgeblich beteiligt. (Bild: PD)
Rüstungsexperten aus Hitlers Versuchsanstalt in Peenemünde haben nach dem Krieg nicht nur in Amerika, sondern auch in Frankreich eine wichtige Rolle beim Raketenbau gespielt. Nur noch wenige Zeitzeugen können über dieses Kapitel berichten.
Gerhard Bläske, Vernon
Auf der Fahrt durch den Wald wird Geschichte lebendig. Viele hundert Male ist Max Bayer diesen Weg gegangen, zu Fuss vom Städtchen Vernon an der Seine den Berg hinauf. «Im Steinbruch wurden Champignons kultiviert», erzählt der heute 87-Jährige, der hier regelmässig vorbeiging, wenn er am Wochenende vom Tanz im Hotel de Strasbourg zurückkam – damals, vor 60 Jahren. Bayer gehörte zu den etwa 140 deutschen Forschern, die auf dem bewaldeten Hochplateau in der Normandie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg an streng geheimen Rüstungsprojekten für Frankreich arbeiteten.
Noch heute in Betrieb
Das hier angesiedelte Laboratoire de Recherches Balistiques et Aérodynamiques ist die Wiege der französischen Raumfahrt, gewissermassen das Peenemünde Frankreichs, und letztlich auch europäischer Projekte wie der Ariane-Rakete. Ganz in der Nähe von Giverny, wo der Impressionist Claude Monet seine berühmten Seerosenbilder gemalt hat, entstanden seit 1946 Forschungs- und Fertigungseinrichtungen zum Bau von Raketen sowie Prüfstände zur Erprobung von Raketentriebwerken, die noch heute in Betrieb sind. Wenn ein Motor getestet wird, ist kilometerweit ein ohrenbetäubender Lärm zu hören. Max Bayer tritt dann manchmal ans Küchenfenster seines schmucken Einfamilienhauses auf der anderen Seite der Seine und sieht weissen Rauch über den Höhenzügen gegenüber aufsteigen.
Video: Frankreichs Peenemünde
Deutsche Wissenschafter, französische Raketen, europäische Raumfahrt.

Er kennt das alles gut. Zusammen mit Ingenieuren und Technikern, die während des Weltkriegs im deutschen Raketenforschungszentrum Peenemünde die weltweit erste Fernrakete V2 entwickelt und gebaut hatten, hat er hier nur wenige Jahre später Raketen für die Franzosen entwickelt. In dem heute leerstehenden Windkanal, einem roten Klinkerbau, der allmählich verfällt und vor dem Unkraut durch die Betonplatten spriesst, hat er bei der Erprobung der aerodynamischen Eigenschaften der Raketen mitgewirkt. Den Franzosen war es gelungen, die Pläne für die Anlage aus dem amerikanisch besetzten Bayern zu schmuggeln.
Es ist zwar allgemein bekannt, dass Forscher um Wernher von Braun das Mondlandungsprogramm der Amerikaner und von den Russen rekrutierte Deutsche wesentlich das Sputnik-Programm entwickelt haben. Doch kaum jemand weiss, dass auch die Franzosen viel deutsches Know-how abschöpften und Tausende von Forschern, Ingenieuren und Technikern anheuerten, die in ganz Frankreich an der Entwicklung von U-Booten, ballistischen Raketen, Flugzeugtriebwerken, Panzern, Helikoptern und Nuklearanlagen arbeiteten. Viele dieser Projekte mündeten später in europäische Programme.
Vergangenheit war zweitrangig
Bereits Ende des Krieges gab General de Gaulle den Auftrag, vom Kriegsgegner möglichst viele Spitzenkräfte zum Aufbau der eigenen Rüstungsindustrie zu rekrutieren. Es galt, den grossen Rückstand gegenüber der sehr weit entwickelten deutschen Forschung aufzuholen und eine leistungsfähige Rüstungsindustrie aufzubauen. Die Franzosen hätten nicht gezögert, in die amerikanische Besatzungszone einzudringen und Experten abzuwerben oder gar zu entführen, berichtet der Historiker Olivier Huwart.
Inwieweit Ingenieure oder Techniker mit dem nationalsozialistischen Regime verstrickt gewesen waren, interessierte weder Amerikaner noch Russen – die Franzosen noch weniger. «Frankreich zeigte sich gegenüber politischen Belastungen deutscher Experten völlig skrupellos», meint Tom Bower, der ein Buch über den Kampf der Alliierten um die Geheimnisse der deutschen Forschung geschrieben hat. Die meisten Forscher waren zwar eher unpolitisch, doch gab es auch Nazi-Mitläufer, was den Franzosen bekannt gewesen sei, wie der Historiker Huwart meint. Das Interesse, das Wissen der Deutschen zu nutzen, überwog. Der kürzlich verstorbene Helmut Habermann, ein ehemaliger «Peenemünder», der mit Bayer in Vernon arbeitete, kannte die unmenschlichen Bedingungen, unter denen KZ-Häftlinge seit 1943 in unterirdischen Stollen im Harz die V2-Raketen produzierten, wobei Tausende umkamen: «Ich verstand, dass es besser war zu schweigen, wenn ich nicht an die Front oder selbst ins KZ kommen wollte.»
Frankreich konnte meist nur Spezialisten aus der zweiten Reihe anheuern, doch gab es unter ihnen auch bekannte Namen wie den späteren Airbus-Pionier Felix Kracht oder den Helikopter-Konstrukteur Heinrich Focke. Wesentliche Beiträge zur Entwicklung der französischen Raumfahrt leisteten Eugen Sänger und Irene Bredt, die schon in den dreissiger Jahren an Raumgleitern gearbeitet hatten, Wolfgang Piltz, der an Fernlenkwaffen tüftelte, oder Karl-Heinz Bringer, dessen in Vernon entwickelter Viking-2-Motor sogar noch in der Ariane-4-Rakete arbeitete.
Von der V2 zur Véronique
Mit Hilfe des ehemaligen SS-Führers Rolf Engel gelang es den Franzosen, 75 Ingenieure und Techniker aus Peenemünde anzuwerben. Sie sollten die dort entwickelte Rakete V2 nachbauen, weiterentwickeln und dabei helfen, Frankreich zu einer Raketen-Grossmacht zu machen. Aus Budgetgründen, wegen einer neuen strategischen Ausrichtung und auch wegen des Misstrauens vieler Franzosen gegenüber den Deutschen mussten die Ambitionen schliesslich zwar deutlich reduziert werden. Doch leisteten die «Peenemünder» den entscheidenden Beitrag dafür, dass Frankreich eigene Raketen wie die Véronique entwickeln konnte, die in den fünfziger Jahren aus dem damals französischen Algerien in den Weltraum geschossen wurden.
Max Bayer gehörte neben Piltz zu den deutschen Spezialisten, die in Nordafrika für die Raketenstarts verantwortlich waren. Er zeigt Fotos, auf denen er neben der Abschussrampe zu sehen ist. Bayer war jedoch kein «Peenemünder». Anfang der vierziger Jahre hatte der damals 19-Jährige in Friedrichshafen am Bodensee in der Fabrik des Motorbauers Karl Maybach in der Panzerentwicklung gearbeitet. Aus französischer Kriegsgefangenschaft stiess er 1948 zu der Gruppe um den Konstrukteur des Zeppelin-Motors, die ebenfalls in Vernon an der Entwicklung von Panzern arbeitete. Noch heute ist er stolz darauf, dass der Panzer zweimal bei der Parade zum 14. Juli auf den Champs-Elysées gefahren sei und fahrbereit im Infanteriemuseum von Saumur stehe.
Während Maybach und die Mehrzahl seiner Mitarbeiter Anfang der fünfziger Jahre zurück nach Deutschland gingen, blieb Bayer, der 1951 eine Französin geheiratet hatte, in Vernon. Er kam in die Peenemünde-Gruppe und war unter anderem für die Überprüfung von Ventilen im Windkanal verantwortlich. «Wegen des hohen Strombedarfs dafür musste eigens eine Hochspannungsleitung hierherverlegt werden, und die Tests fanden nur nachts statt.»
Einer der letzten Zeitzeugen
Bayer ist der letzte Überlebende der nach Vernon geholten Deutschen. Sein Freund Otto Kraehe, mit dem er Seite an Seite gearbeitet hatte, starb 2009. Habermann wurde im Januar 2010 zu Grabe getragen. Bayer ärgert sich noch heute darüber, dass Maybach, «ein Schwabe», sehr knausrig gewesen sei und die «Peenemünder» etwa doppelt so viel verdient hätten wie er. In beiden Gruppen war Deutsch Arbeitssprache. Maybach verbat sich sogar ausdrücklich französische Mitarbeiter. Erst nach der Rückkehr vieler Deutscher in den fünfziger Jahren vermischten sich die Teams.
Die Unterbringung in Baracken, in denen sich Junggesellen anfangs ein Zimmer teilen mussten und es lediglich eine Dusche für 16 Männer gab, war spartanisch. Das änderte sich mit der Errichtung der von den Deutschen als «Buschdorf» bezeichneten Häuser im Wald sowie komfortableren Villen «mit Badezimmern», wie Kraehe 2005 im Gespräch erzählte. Die Deutschen bauten sich Tennisplätze, es gab einen Lebensmittelladen und eine Schule. Manche Franzosen erinnern sich noch an die Lederhosen ihrer Spielkameraden und die leckeren Torten bei ihren Kindergeburtstagen.
Nach Frankreich gekommen sind die deutschen Fachleute auch wegen der guten Versorgung. In der zerbombten Heimat waren sie meist arbeitslos und konnten ihre Familien kaum ernähren. «Ich bin wegen der guten Bezahlung und Verpflegung gekommen», sagte Kraehe. Alles war penibel geregelt. Jedem standen 15 Liter Wein pro Monat, 4 Kilo Fleisch und eine festgelegte Menge Holz zur Verfügung. Auch eine Rückfahrkarte in die Heimat pro Jahr gab es. Im Gegensatz zu ihren Kollegen in den USA und vor allem in der Sowjetunion durften sich die deutschen Ingenieure und Techniker in Frankreich frei bewegen. An Sonntagen machten sie mit Militärfahrzeugen Ausflüge ans Meer oder nach Paris. Das sorgte anfangs für Spannungen mit der in der Nachkriegszeit noch darbenden einheimischen Bevölkerung.
Dies war ein Grund dafür, dass die Deutschen, die häufig mit ihren Familien kamen, in so isolierten Gebieten wie in der ehemaligen Munitionsfabrik im Wald bei Vernon angesiedelt wurden. Der Raumfahrtingenieur Gerd Schneider kam als Kind in einer alten Polizeikaserne in Décize bei Nevers in Mittelfrankreich unter. Sein Vater Hans, der bei BMW in München Raketentriebwerke entwickelt hatte, gehörte zum Team von Hermann Östrich, der beim Flugmotorenhersteller Snecma Strahltriebwerke entwickelte. Schneider senior blieb 16 Jahre in Frankreich und rückte bis zum Direktor des Raketenentwicklungszentrums von Villaroche bei Paris auf. Östrich wurde sogar Technischer Direktor bei der Snecma.
In Zukunft ein Erlebnispark ?
Viele der Arbeiten der deutschen Spezialisten sind inzwischen in europäische Projekte wie Ariane, Eurocopter oder Airbus eingeflossen. Unter Fachleuten ist unstrittig, dass der Beitrag dieser Pioniere für die französische Raumfahrt und die auf Abwehrraketen beruhende nukleare Abschreckungsmacht von unschätzbarer Bedeutung war. «Fast das gesamte französische Raketenprogramm hat seinen Ursprung in Vernon. Die Deutschen haben erheblich dazu beigetragen, dass Frankreich zur drittgrössten Weltraummacht wurde», urteilt der Technikhistoriker Jacques Villan.
Christian Vanpouille ist ein Franzose, der die Erinnerung an diese Zeit wachhalten will und seit Jahren Dokumente dazu sammelt. Der Kommunikationsverantwortliche des Laboratoire de Recherches Balistiques et Aérodynamiques träumt davon, das Gelände um den ehemaligen Windkanal zu einem Erlebnispark mit Raketenmodellen, Animationen und Versuchsanordnungen auszubauen und dabei auch den Beitrag von Deutschen wie Max Bayer zu würdigen. Zwar unterstützt Frankreichs Verteidigungsminister Hervé Morin das Projekt grundsätzlich. Doch Finanzierungszusagen haben bisher weder die Pariser noch die regionalen oder städtischen Behörden gemacht. Auch die Hoffnung, private Investoren zu gewinnen, hat sich bisher nicht erfüllt. Bayer, der in all den Jahren die deutsche Staatsbürgerschaft beibehalten hat, würde sich freuen, wenn es klappte. Doch auch so empfindet er Genugtuung darüber, dass er durch seine Arbeit «zur deutsch-französischen Verständigung beigetragen» habe.

Diesen Artikel finden Sie auf NZZ Online unter:
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